Verschmitzt sinnierte Bassist Reimer Bustorff über die Kettcar-Europatour, nach Luxemburg kommen die Indie-Legenden wahrlich nur selten. Dennoch war das Atelier nicht ausverkauft, doch immerhin ordentlich gefüllt, was so die Atmosphäre eines intimen Clubkonzerts verströmte. Als Support hatte man die sehr kurzfristig überredeten Lygo an Bord, die den krankheitsbedingten Ausfall von Love A kompensierten.
Ich höre wenig Radio. Wenn überhaupt nur unter der Dusche und während meines zum Glück nur recht kurzen Wegs zur Arbeit, denn der CD-Player meines alten, treuen Autos hat schon vor Jahren den Geist aufgegeben. Doch die kurze Zeit reicht, um immer wieder mit Schrecken festzustellen, wie unfassbar belanglos gerade die deutschsprachige Musik geworden ist. Mit etwas Glück bekommt man noch Altmeister wie Grönemeyer oder Lindenberg geboten, meist sind es jedoch die grässlichen Betroffenheitslyriker a la Giesinger, Forster und wie sie alle heißen. „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“, wie es schon in Trostbrücke Süd so schön gesagt wurde.
Was aber so nicht stimmt, denn wenn ich das Radio ausmache, habe ich mein Ziel meist erreicht und habe das Glück, selbst auf der Arbeit unter meinem Kopfhörer in ganz andere musikalische Welten einzutauchen. Die Scheißmusik ist sicher immer noch nicht besser, aber Kettcar haben mir schon viele Jahre, mittlerweile zwei Jahrzehnte, gezeigt, welche erzählerische Kraft Rockmusik haben kann.
Marcus Wiebusch ist ein fantastischer Erzähler, jedes Lied ist eine Welt für sich. Man taucht ein in präzise beobachtete Alltagsgeschichten, selbst großen Themen (Krieg, Fluchthelfer, Homophobie) werden mit viel Pathos und Emotionalität auf Einzelschicksale heruntergebrochen und somit unmittelbar erlebbar gemacht, ohne gefühlsduselig oder gar peinlich zu werden.
Ich hatte zugegebenermaßen immer etwas Angst, mir das auf der Bühne anzuschauen. Viel zu viele Bands, die mir sehr viel bedeuteten oder bedeuten, haben dort, wo der Künstler die Hosen runterlassen muss, Schaden genommen, der nie wieder gutgemacht werden konnte.
Kettcar haben es mir dabei leicht gemacht und 2013 erst einmal eine Pause eingelegt, bevor ich sie zum ersten Mal live sehen konnte. Doch die berühmte kreative Auszeit, für viele Bands ein anderer Begriff für das Ende, war diesmal wirklich nur eine Pause, in der sich die Bandmitglieder eigenen Projekten widmen und über die Zukunft von Kettcar reflektieren konnten. Und man kam gestärkt zurück und lieferte 2017 das starke fünfte Album Ich vs. Wir ab. Nun konnte auch ich nicht mehr anders und sah Kettcar im Vorjahr beim Headlinergig auf dem Rockaway Beach Festival zum ersten Mal. Und mir war sofort klar, dass dies sicher nicht mein letzter Besuch war.
Auf Pünktlichkeit wird im Atelier immer Wert gelegt, was sich aber bei vielen Besuchern noch nicht so ganz herumgesprochen zu haben scheint. Oder man verzichtete bewusst auf Lygo, die musikalisch deutlich härter und mit mehr Geschrei statt getragener Lyrik daherkamen. Ich habe die Bonner schon mehrfach live gesehen und war bislang immer sehr angetan von der Mischung aus Wut und Resignation, die in ein paar richtig guten Songs umgesetzt wird. Oder wie meine Begleitung anlässlich des Karnevalsbeginns so schön sagte: „Von der Rheinischen Fröhlichkeit haben die aber nicht so viel abbekommen“. Mir hat es auf jeden Fall gefallen und letztendlich ist es ja auch die spannende Vielseitigkeit, die das Kettcar-Hauslabel Grand Hotel van Cleef genauso auszeichnet.
Pünktlich um 21 Uhr betraten Kettcar die Bühne, und als ob es im Atelier nicht schon eng genug wäre, hatten sie diesmal sogar noch ein dreiköpfiges Bläserensemble mit am Start. Spätestens mit der Tuba war die Bühne dann mal ausgefüllt. Die Bläser passten schon einmal bestens zum Opener Rettung vom 2012er Album Zwischen den Runden. Von da aus ging es in einer wunderbaren Mischung quer durch die Bandgeschichte, es war eine Playlist zum Schwärmen. Da es das erste Konzert der Tour war, will ich auch gar nicht soviel verraten. Mit Scheine in den Graben (s.u.) und Palo Alto gab es zwei Songs von der am 15. März erscheinenden EP Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich) zu hören. Highlights in einem insgesamt geschlossen starken Set waren für mich außerdem Sommer ’89, Balu, das mit einer Überraschung aufwartende Balkon gegenüber und Der Tag wird kommen.
Die Band wirkte entspannt und musikalisch ausgezeichnet aufeinander eingestimmt. Reimer erzählte wieder den ein oder anderen Schwank aus seinem Leben und selbst Marcus Wiebusch war auf seine manchmal etwas knurrige Art bestens gelaunt. Nach einem Zugabenblock mit drei Songs kam er erst einmal allein mit Gitarre zurück, Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt beschloss ein wunderbares Konzert, nach dem sich auf dem Weg nach draußen fast ausschließlich über die Texte unterhalten wurde. Habe ich so auch selten erlebt. Im Radio war heute dann zum Glück 80er-Tag, die Fallhöhe war also nicht ganz so hoch.
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Zur Feier des Tages erschien heute auch die neue Single Scheine in den Graben (feat. Schorsch Kamerun, Jen Bender, Bela B, Jörkk Mechenbier, Sookee, Felix Brummer, Marie Curry, Gisbert zu Knyphausen, Safi & David Fjørt). Es gibt wahrscheinlich nur wenige Bands, bei denen Lyricvideos so viel Sinn ergeben.