Keine Band auf diesem Planeten vermag es, nur durch eine Konzertankündigung eine gesamte Stadt in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Die Rolling Stones auf ihrer vielleicht letzten Tournee wählten Hamburg als Startpunkt für die No Filter-Tour durch Europa, mit neuer Bühne und einer überraschenden Setlist. Doch schon am Vortag genossen wir die kulturelle Vielfalt in der Elbmetropole, denn auf dem Rockspektakel auf dem Rathausmarkt spielten die famosen Rogers, Antillectual und die Lokalmatadore von I-Fire.
It’s more than Rock ’n’ Roll
Das Konzert der Stones war wie gewohnt Gigantismus pur. Ticketpreise aus der Hölle und eine riesige Konzertarena mitten im Hamburger Stadtpark, den zuletzt David Bowie und Pink Floyd Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bespielen durften. 82.000 Zuschauer tummelten sich vor der Bühne und auf riesigen Tribünen, die erstaunlich weit von der Bühne entfernt platziert wurden. Wir hatten in den sauren Apfel gebissen und uns Karten für den Silberbereich gegönnt, was unser direkt hinter dem unbezahlbaren Front-of-Stage-Bereich eine gute Sicht verschaffte, und von wo man Mick, Keith und Co leibhaftig und nicht nur auf den Videowalls sehen konnte.
Im Großen und Ganzen klappte die Organisation des Großereignisses gut, Veranstalter FKP Scorpio hatte seine Hausaufgaben erledigt und versuchte alles, die Besucher frühzeitig auf das Gelände zu bekommen, um den Andrang etwas zu entzerren. Lediglich der Zugang zum Silver Pit war katastrophal organisiert, und in einem total unnötigen Gedränge wurden wir über eine der Tribünen in unseren Block geführt. Das war gefährlich und eskalierte nur dank der besonnenen Besucher nicht. Zugegebenermaßen waren wir auch ein wenig spät dran, aber so entgingen wir noch einem großen Schauer, der am Nachmittag über dem Gelände niedergegangen war. Doch nach tagelangem Dauerregen klarte es pünktlich vor Konzertbeginn auf, ganz da oben scheint man auch auf Rock ’n‘ Roll zu stehen. So kamen wir jedenfalls erst recht knapp vor dem Auftritt der Vorgruppe hinein. Kaleo aus Island überzeugten mich allerdings gar nicht; ihr Hit Way Down We Go ist zwar ganz nett, aber länger als eine halbe Stunde würde ich mir das auch nicht anhören wollen, dafür war es mir einfach nicht abwechslungsreich genug.
Doch wir waren ja wegen den Stones vor Ort, und die legten pünktlich um halb 9 los. Und wie! Die Bühne wurde in rot getaucht und auf den vier gigantischen Türmen loderten Flammen, wenig später erklangen die unvergleichlichen ersten Töne von Sympathy for the Devil. Was für ein Beginn! Die Türme dienten als riesige Leinwände, auf denen bis auf einige Ausnahmen ausnahmslos die Musiker zu sehen waren, in Topqualität, die jede Furche in den gealtertern Gesichtern gnadenlos erforschte. Die eigentliche Bühne war geradezu schlicht und weniger spektakulär als noch vor vier Jahren in Düsseldorf.
Weiter ging es mit It’s only Rock ’n’ Roll, Tumbling Dice und Out of Control, die Menge an Klassikern, aus der die Stones schöpfen können, ist wahrlich beachtlich. Dennoch ist es ein Spagat. Auf der einen Seite gibt es die harten Fans, die seit Jahren und Jahrzehnten einen festen Bestand an Favoriten bei wirklich jedem Konzert hören müssen, und die sich deutlich mehr Vielfalt wünschen. Auf der anderen Seite stehen die Fans, die vielleicht zum ersten Mal ein Konzert sehen, und die enttäuscht wären, wenn die ganz großen Klassiker fehlen würden.
Ich persönlich fand die Setlist diesmal hervorragend, denn gerade weil es das erste Konzert der Tour war, gab es einige Überraschungen, sowohl was die Reihenfolge anging (Sympathy als Opener, Satisfaction im regulären Set), als auch was ein paar selten gehörte Songs anging. Dazu gehörten auch zwei der Bluessongs, denen die Stones auf ihrer aktuellen Platte Blue & Lonesome neues Leben einhauchten, und mit denen das Tempo altersgerecht etwas heruntergefahren wurde. Konditionell machten die Herren allerdings einen sehr guten Eindruck. Mick Jagger war stimmlich deutlich stärker als bei meinem letzten Mal in Düsseldorf und tobte fast wie gewohnt über die Bühne. Lediglich die Pausen zwischen den Songs wirkten etwas länger als in der Vergangenheit, waren aber immer noch deutlich kürzer als bspw. bei AC/DC.
Ein echtes Highlight war für viele Fans sicherlich Play with Fire, ein Song, der wahrlich nicht sehr häufig im Programm der Stones auftaucht und dazu noch einer meiner persönlichen Favoriten darstellt. Gleiches gilt für Dancing with Mr. D vom Goats Head Soup Album. Nach anfänglich spürbarer Anspannung spielten sich die Stones in der Folge gut gelaunt durch ein Set, das absolut stimmig war. Das in einem Fanvoting gewählte Under my Thumb, Paint it Black und der grandiose Midnight Rambler stachen dabei für mich heraus.
Die Band präsentierte sich in bester Spiellaune. Keith dabei cool wie immer und Ronnie geradezu gelöst feixend wirkten entspannt und verspielt, während Charlie Watts, wie gewohnt ordentlich im weißen Hemd hinter seinem minimalistischen Drumkit sitzend, stoisch und präzise den Takt vorgab. Aber so viel lachen habe ich ihn während eines Konzerts auch noch nicht gesehen. Die vier teilen sich die Bühne seit vielen Jahren mit einem festen Stamm an weiteren Musikern. Ganz uneitel gewähren die Stones jedem von diesen seine Zeit im Rampenlicht, sei es Darryl Jones am Bass, Chuck Leavell am Keyboard oder Background-Sängerin Sasha Allen, die bei Gimme Shelter stimmlich und in Sachen Bühnenpräsenz zwar nicht ganz an Lisa Fischer heranreicht, aber dennoch eine beeindruckende Performance ablieferte.
Mit eben diesem Gimme Shelter, für mich persönlich der beste Stones Song aller Zeiten, neigte sich das Konzert seinem Ende zu. Knapp zweieinhalb Stunden sorgten die Stones für beste Unterhaltung, bevor mit Jumpin‘ Jack Flash und einem kleinen, etwas verspätet gezündeten Feuerwerk, die Besucher auf den matschigen Heimweg geschickt wurden. Mal sehen, ob es für mich wirklich das letzte Konzert war.
Rockspektakel auf dem Hamburger Rathausmarkt
Eigentlich begann unser Konzertwochenende schon am Donnerstag, denn zur Einstimmung gönnten wir uns in der malerischen Festung Ehrenbreitstein in meiner Heimatstadt Koblenz ein Konzert von Interstellar Overdrive, die ein wirklich sehr interessantes Pink Floyd Coverprogramm zum Besten gaben. Hamburg zeigte sich am Freitag von seiner unfreundlichen Seite und empfing uns mit Dauernieselregen. Daher starteten wir im Trockenen mit einem Biertasting bei Störtebeker in der Elbphilharmonie. Nach dem Check-in in unserer Wohnung im Schanzenviertel ging es bierig weiter und wir probierten einige ausgezeichnete Hopfenspezialitäten im Alten Mädchen.
Spätestens um 20 Uhr wollten wir allerdings auf dem Rathausmarkt sein, denn dort fand zum 30. Mal das Rockspektakel statt, ein umsonst und draußen Festival in herrlichem Ambiente. Wir wollten pünktlich zum Auftritt von Antillectual vor Ort sein, und waren ziemlich entsetzt, als wir den riesigen Platz betraten. Vor der Bühne versammelten sich vielleicht einhundert Menschen, der Rest des Platzes war gähnend leer. Das Wetter und unzählige Konkurrenzveranstaltungen haben den Veranstaltern da wohl einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht.
Die Niederländer machten aber das Beste daraus und lieferten einen herzhaften Gig ab. In der Luke habe ich sie letztes Jahr einmal knapp verpasst, aber live sind Antillectual eine echte Bank. Melodischer Punkrock alter Schule, mir hat das richtig gut gefallen. Was ich an diesem Abend außerdem gut fand, war das gemischte Publikum. Beinharte Punkrocker tanzten neben Obdachlosen und Refugees, die vielleicht zum ersten Mal ein Konzert dieser Art sahen. Es war schön ein paar Kindern zuzuschauen, die offensichtlich richtig Spaß und glänzende Augen hatten.
Hauptgrund unseres Besuchs waren die Rogers, die an diesem Abend den Release ihres aktuellen Albums Augen auf feierten. Live habe ich die Düsseldorfer schon einige Male sehen können und die Energie, die von der Bühne ins Publikum und zurück schwappt, ist ziemlich beeindruckend. Pünktlich hatte sich auch der gerade gegründete Rogers Fanclub vor der Bühne eingefunden, und insgesamt wurde es langsam auch etwas voller. Ich traf einige bekannte Gesichter, die Welt der Punkkonzerte ist halt klein, da kommt man aus allen Teilen der Republik dann auch mal in Hamburg zusammen.
Am Ende des Konzerts fragte Rogers-Sänger Chri das Publikum etwas verwirrt nach dem Headliner, und auch mir waren I-Fire bis dahin völlig unbekannt. Aber wir hatten noch Bier und beschlossen, uns zumindest die ersten Songs anzusehen, man weiß ja nie. Die Menge vor der Bühne vergrößerte sich auch minütlich und ein süßlicher Geruch waberte über den Platz, ich war gespannt, was da kommen würde. Und es wurde super. I-Fire ist eine Reggaeband aus Hamburg, die sich in den vergangenen zehn Jahren offenbar eine treue Fangemeinde erspielt hat. Auch wenn das ja nicht so ganz meine Musik ist, hat mich der Auftritt und die gelöste Stimmung vor der Bühne absolut überzeugt, und so mussten wir uns dann doch noch das ein oder andere Zusatzbier holen.
Das Wochenende in Hamburg war phänomenal. Es gibt kaum eine Stadt, in der ich mich so wohl fühle, und die meine Bedürfnisse in Sachen Musik und Bierkultur so gut abdeckt. Gemeinerweise wurden wir auch mit einem Sonnentag wieder in die Provinz entlassen, mit vielen Bieren im Rucksack und schönen Erinnerungen im Gepäck.