Die Geschichte von Derry spiegelt sich schon im Namen der Stadt. Aus britischer Perspektive Londonderry genannt, heißt sie bei den Iren Derry, doch so einfach ist die Geschichte der Stadt bei Weitem nicht zu erklären. Die eindrucksvolle Stadtmauer schützte jahrhundertelang Siedler im Dienste der britischen Krone, umgeben von der irischen Bevölkerung, die konsequent von politischer Einflussnahme und Wohlstand ausgeschlossen wurde. Es ist kaum zu glauben, dass dieses Zweiklassensystem bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatte und letztendlich zur Katastrophe führte.
Etwas Geschichte
Derry ist untrennbar mit den Ereignissen des Bloody Sunday am 30. Januar 1972 verbunden, als britische Fallschirmjäger 14 friedliche Demonstranten in der katholisch-irischen Bogside töteten. Die Spaltung der Stadt begann jedoch viele Jahrhunderte zuvor im Zuge der sog. „Ulster Plantation“, dem Versuch der britischen Krone, ihren Machtbereich im Norden Irlands durch die Ansiedlung eigener Bürger vor allem aus Schottland und Wales zu sichern. Dies ist heute noch am manchmal sehr gewöhnungsbedürftigen Dialekt in Nordirland spürbar. In den Jahren 1688/1689 widerstand die durch eine heute noch vollständig erhaltene Mauer geschützte Stadt einer mehr als einhundert Tage andauernden Belagerung durch katholische Truppen, was die Herrschaft der britisch-protestantischen Bevölkerung für die folgenden Jahrhunderte zementierte.
Die Stadtmauer
Das heutige Derry hat die Grenzen der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts errichteten Stadtmauer gesprengt, doch der historische Stadtkern kann heute noch auf der Stadtmauer zu Fuß umrundet werden. Im Laufe der Jahrhunderte wurde diese nur durch einige Tore erweitert und blieb ansonsten unversehrt. Von hier aus kann man schön die sorgfältig geplante Struktur der Stadt erkennen. Es bieten sich aber auch Einblicke in die Bogside, dem katholischen Viertel und Zentrum der Unruhen, die in den späten 60er und frühen 70er-Jahren eskalierten. An den neuralgischen Punkten der Stadtmauer fallen Zäune und Fangnetze auf, die das Werfen von Gegenständen verhindern sollen. Nur kurz nach unserer Rückkehr gab es kleinere Zusammenstöße direkt unterhalb der Mauer im Rahmen der sog. Bonfires, großen Feuern, die an Mariä Himmelfahrt von katholischen Jugendlichen entzündet werden und in denen Union Jacks, nordirische Fußballtrikots und sonstige Symbole der Gegenseite verbrannt werden.
Bogside History Tours
Mit der jüngeren Geschichte Derrys setzten wir uns im Rahmen einer Walking Tour auseinander. Bei den Bogside History Tours führen Einheimische die Besucher durch die Schauplätze der Unruhen, was ein wirklich einschneidendes Erlebnis war. Die Führung beginnt am Rathaus der Stadt, das direkt jenseits der Stadtmauer liegt und zum Symbol der Unterdrückung der katholischen Mehrheit durch die von England unterstützten protestantischen Kräfte wurde. Zweimal verübte die IRA im Jahr 1972 Anschläge auf das Gebäude, das bei diesen Angriffen stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das Gebäude kann heute kostenfrei besichtigt werden. Neben einer Ausstellung, die sich vor allem der Plantation widmet, sind der holzgetäfelte Ratssaal sowie die Buntglasfenster äußerst sehenswert.
Nur wenige Minuten Fußweg führen uns schließlich mitten in die Schauplätze der Ereignisse der Jahre 1968 bis 1972. In der Bogside formierte sich nach dem Vorbild aus Amerika die Bürgerrechtsbewegung, hier jedoch mit Bezug auf die extreme Benachteiligung der katholischen Bevölkerung hinsichtlich des Wahlrechts, der Arbeitsplätze und Wohnungsvergabe. Die Ereignisse spitzen sich erstmals im Jahr 1969 zu, als ein zuvor verbotener Marsch von Belfast nach Derry von Polizeikräften attackiert wurde, und es in der Folge immer wieder zu verschiedenen Zusammenstößen kam. Die Situation eskalierte im August in der sog. Battle of the Bogside im Anschluss an einen protestantischen Marsch, der an den erfolgreichen Widerstand der Belagerung von 1689 erinnerte. Die über mehrere Tage andauernden Unruhen verbreiteten sich bis nach Belfast, wo es sogar Tote gab. Als letzten Ausweg sandte die britische Regierung erstmals Truppen nach Nordirland, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
In der Folge gab es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Gruppen sowie Polizei und Armee. Im August 1971 kam es zu massenhaften Festnahmen vermeintlicher Unruhestifter, die ohne Gerichtsverfahren auf Verdacht hin oder aus Willkür in Gewahrsam kamen, eine Praxis, die auch heute noch gilt. Obwohl Demonstrationen verboten waren, formierte sich die Bürgerrechtsbewegung im Januar 1972 und organisierte einen großen Protestmarsch am 30. Januar 1972, der als „Bloody Sunday“ in die Geschichte eingehen sollte. Die Demonstranten wurden durch Straßensperren am Eindringen in den Altstadtbereich gehindert, in der Folge wurden 14 friedliche Demonstranten von einer britischen Fallschirmjägereinheit getötet, 14 weitere wurden verletzt. In einer ersten Untersuchung der Vorkommnisse wurden die Täter von jeglicher Schuld freigesprochen, erst im Jahr 2010 erklärte Premierminister David Cameron nach einer erneuten, jahrelangen Untersuchung die Taten für „unjustified and unjustifiable“ und entschuldigte sich bei den nun offiziell unschuldigen Opfern des Bloody Sunday.
Berühmtestes Relikt der Unruhen ist die „Free Derry Corner“, eine Häuserwand mit dem markanten Schriftzug, der an die Zeiten erinnert, in denen die Bogside für britische Truppen und die Polizei nicht zugänglich war. Von hier aus sieht man auch schon die riesigen Murals, Wandmalereien, die zwischen 1997 und 2001 von den „Bogside Artists“ gemalt wurden und die Ereignisse sehr eindrücklich visualisieren. An manchen Stellen wurden noch Einschusslöcher erhalten, die an besonders hinterhältige Morde der Soldaten erinnern. Unsere Tour endete am Bloody Sunday Memorial, einem Obelisken, an dem der Toten gedacht wird.
Die Führung kann ich wirklich jedem Besucher von Derry ans Herz legen, die Schilderungen gingen uns sehr nahe, und wenn man bedenkt, dass sich diese Ereignisse erst vor wenigen Jahrzehnten mitten in Europa abgespielt haben, wird man wirklich nachdenklich. Wir schlossen noch einen Besuch im Museum of Free Derry an, wo die Familien einiger Opfer die Kleidungsstücke mit Einschusslöchern zur Verfügung gestellt haben, und wo man außerdem Originalaufnahmen sehen kann, die einen die Ereignisse noch einmal besser einordnen lassen, vor allem weil die Bogside sich architektonisch seit den 70er-Jahren stark verändert hat.
Stadt am Fluss
Neben der meist sehr düsteren Geschichte der Stadt sollte man nicht vergessen, dass sich das heutige Derry sehr lebendig und jung präsentiert. Die Stadt liegt malerisch an der Mündung des River Foyle, entlang dessen es eine Promenade gibt, die vor allem in den Abendstunden ein Paradies für Jogger und Laufgruppen ist, auch wenn diese leider direkt an einer stark befahrenen Straße liegt.
Unterkunft & Food
Für zwei Nächte kehrten wir im Bridge B&B ein, einem Bed and Breakfast, das über zwei Häuser hinweg mit vielen Zimmern schon Hotelcharakter hatte (zu buchen u.a. über booking.com). Wirtin Ursula hatte aber alles im Griff und mit zupackendem Charme organisierte sie uns gleich noch eine Reservierung im Bentleys, wie so häufig einer Mischung aus Pub im Erdgeschoss und Restaurant darüber. Das Essen war vorzüglich. Für mich gab es ein sog. 50/50, ein Rumpsteak und ein Hühnchenschnitzel mit frittierten Zwiebelringen und Champ. Die Dame entschied sich für Beer Battered Cod (Kabeljau), ebenfalls mit Champ.
Doch auch für Freunde kreativer Biere gibt es in Derry einen empfehlenswerten Anlaufpunkt. Das Guildhall Tap House befindet sich direkt an einer Seite des Rathauses und überzeugte voll und ganz mit einer sehr guten Auswahl an Bieren vom Fass und in der Flasche. Hier wird auch selbst gebraut, doch leider waren die hauseigenen Biere zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig – probiert habe ich natürlich trotzdem. Hier gab es außerdem zwei sehr schöne Sauerbiere der YellowBelly Brauerei aus Wexford im Südosten Irlands.
Am zweiten Abend kehrten wir im hippen Quaywest Restaurant unweit des Flusses ein. Wir bekamen zwar erst einen Tisch zwei Stunden später, aber das Taphouse war nicht weit und nach einer etwas nervigen erneuten Wartezeit an der Quaywest-Bar bekamen wir dann doch einen Tisch, der gefühlt schon eine halbe Stunde zuvor frei war. Das Essen war aber ok und dank einer sehr merkwürdigen Preisgestaltung verließen wir das Restaurant satt, zufrieden und zum absoluten Schnäppchenpreis. Kapiert habe ich es aber nicht…
Fazit
Im Rahmen unserer Irlandreise werden wir Derry in ganz besonderer Erinnerung behalten. Die Geschichte der Stadt hat uns sehr berührt, und es ist zu hoffen, dass es in unmittelbarer Nähe der Grenze im Zuge des Brexit nicht erneut zu Einschränkungen kommt, die erst vor wenigen Jahren als überwunden erklärt wurden.
Bislang veröffentlicht:
- Unterwegs auf der Causeway Coastal Route und dem Wild Atlantic Way
- Belfast– Boomtown mit Licht und Schatten
- Unterwegs auf der Causeway Coastal Route Tag 1 – Von Belfast nach Cushendall
- Unterwegs auf der Causeway Coastal Route Tag 2 – Von Cushendall zu den Dark Hedges
- Unterwegs auf der Causeway Coastal Route Tag 3 – Von Ballycastle nach Portrush
- Unterwegs auf der Causeway Coastal Route Tag 4 – Von Portrush über den Giant’s Causeway nach Derry
- Derry – „Walled City“ mit dunkler Geschichte
- Unterwegs auf dem nördlichen Wild Atlantic Way – Von Derry nach Malin Head
- Unterwegs auf dem nördlichen Wild Atlantic Way – Von Malin Head nach Rathmullan
- Unterwegs auf dem nördlichen Wild Atlantic Way – Von Rathmullan nach Dunfanaghy
- Unterwegs auf dem nördlichen Wild Atlantic Way – Von Dunfanaghy nach Glenties
- Unterwegs auf dem nördlichen Wild Atlantic Way – Von Glenties nach Slieve League
Ein paar Bilder
(Galerie liegt bei Flickr, daher anderes Layout)
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